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Franz Zadrazil und Wien

Franz Zadrazil malt Bilder seiner Vaterstadt Wien, die sich von dem in der Welt verbreiteten Bild dieser Stadt in sehr eindeutiger Weise unterscheiden. Obwohl diese Arbeit in vieler Hinsicht aus den kulturellen Traditionen und dem spezifisch wienerischen Erlebnisumfeld des Malers erwachsen ist, zeigt sie ein Bild von dieser Stadt, welches sonst kaum in künstlerischen Hervorbringungen irgendwelcher Art Parallelen findet. Franz Zadrazil nimmt weder auf die Pracht des barocken Wien noch auf die heute besonders popularisierte Kunst des Sezessionismus Bezug. Seine Bilder von Wien sind realistisch, zeigen aber nicht die Stadt der berühmten Sehenswürdigkeiten, das Ziel des Städtetourismus und zeigen auch nicht das "moderne" Wien, den Stolz der jeweiligen Politiker, mit seinen postmodern geschmückten Verwaltungsbauten, den Verkehrsanlagen und Fußgängerzonen. Übrigens sind gerade diese angeblich "beruhigten" Zonen ein besonderes Objekt seiner Ablehnung.

Franz Zadrazils Wienbilder sind gekennzeichnet durch eine enge Kongruenz von künstlerischer Methode und Sujet. Das wesentliche Ausdrucksmittel in seiner Arbeit ist die farbige Fläche, er verzichtet durchgehend auf die Mittel der traditionellen Malerei. Der Effekt des perspektivischen Tiefenraumes, der sich bei Stadtbildern so sehr anbietet, spielt in seiner Arbeit keine Rolle, Gleiches gilt für die Stilmittel der Luftperspektive (Atmosphäre) und Beleuchtung. Umso stärker kommt zur Wirkung, wofür er sich vornehmlich interessiert: Die kraftvoll-farbigen Flächen auf Mauern, Wänden, Schildern und abblätternden Affichen sowie das geheime Leben, welches sich in ihnen ausdrückt. Der Botschaft dieser Farben geht er nach und konzentriert sie in seinen Bildern zu Manifestationen einer künstlerischen Haltung, welche in ihrer Originalität und Konsequenz auf der persönlichen Loyalität des Autors zu seiner Welt und der engen Verzahnung von Sujet und Methode beruhen. Franz Zadrazil findet seine Motive in einem Bereich Wiens, welchen jeder Wiener genau kennt, für den es aber dennoch keinen vollkommen exakt benennenden Namen gibt, weil der Ausdruck "Vorstadt" zu sehr mit der Vorstellung von Heurigenseligkeit und Fuhrwerkerhäusern verbunden ist. Diese Bereiche sind vielmehr jene dichtverbauten Bezirke um den Wiener Gürtel mit den Zinskasernen und bescheidenen Gemischtwarenläden - wienerisch Greißlern - welche, weil in respektvoller Entfernung vom noblen 1. Bezirk, nur selten von den Bewohnern und touristischen Besuchern dieses Bezirks betreten werden. Hier leben Menschen mit bescheidenen Ambitionen, alte Leute mit Mindestpensionen, sogenannte Ausgleichsrentner (in strengen Wintern erhalten sie von der Gemeinde Wien einen Sack Gratiskohlen), kleine gewerbetreibende Besitzer von Geschäften, die seit Jahrzehnten unverändert sind, alle jene Mieter von Wohnungen ohne Wasser und Toilette (sogenannte Substandardwohnungen), deren Weiterexistenz in engem Zusammenhang mit einem rigorosen Mieterschutzgesetz zu sehen ist. Zu dieser Welt gehören auch die traditionsreichen Pornokinos und schäbigen Nachtlokale und - ein schreckliches Wort für alle anständigen, gesetzten Leute - jene gut florierenden Bordelle mit ihrem Publikum. Franz Zadrazils Bilder sind enzyklopädische Dokumentationen dieser Welt. Man sieht die Fassade einer WÖK (Wiener öffentliche Küche) mit ihrem charakteristischen Signet. Dort konnten die weniger begüterten Bewohner (der Wiener Außenbezirke) ein bürgerliches Mittagessen zu einem geringen Preis konsumieren (*) . Inzwischen hat diese in Gemeindebesitz befindliche Gastronomiekette einen anderen, sicherlich von einer Werbeagentur entwickelten Namen, samt dementsprechend gestylter Inneneinrichtung erhalten. Die Eigentümlichkeit dieser historischen Institution wird vom Künstler dadurch betont, daß er eine Fassade zeigt, bei der die Fenster sämtlich durch einen Anstrich von der gleichen Farbe, wie die der Mauer, zugestrichen sind und sich auf eben diesen zugestrichenen Fenstern die WÖK-Signets befinden.

Ein anderes Bild zeigt eine weitere, für dieses "Soziale Umfeld" (Soziologendeutsch) typische Einrichtung, eine Lottokollektur, deren äußeres Bild durch ein in vielen Jahren angesammeltes Ensemble von Reklameschildern, welche inzwischen langsam verrosten, geprägt, aber vom Staatswappen eindrucksvoll komplettiert wird. Im "Mezzanin" darüber der ungeschickte Charme einer Reklame für Spielzeug und Kinderwagen. Das Feinkostgeschäft wird gerade in Eigenregie renoviert, wir sehen innen die Leiter stehen, die Eingangstür ist durch den Rollbalken halb versperrt, und auf der Fassade breitet sich ein unprofessioneller gelber Anstrich ohne exakte Begrenzung aus.

Einen weiteren Schwerpunkt in dieser Infrastruktur, und damit in Zadrazils Oeuvre, bilden natürlich jene Bars und Nachtclubs mit den schräg dekorierten Fassaden und exotischen Namen, die den ortsunkundigen Besucher so sehr einschüchtern, für die aber die Anwohner nur ein beiläufiges Achselzucken übrig haben. Hier lockt die "Arenabar" mit verruchten Angeboten auf abblätternder Fassade, dort ist es das Nachtlokal "Orchidee", und die Bar "Romantica" bietet auch noch ein Spielcasino plus Videogirls; die Pension, eine Etage darüber, geschmückt mit bunten Lämpchen, die man als Meterware kauft, hält großzügig Zimmer bereit. Ein ganz besonders typischer Ausdruck der Mentalität der Bewohner dieser Bezirke sind die Geschäfte, die gebrauchte Romanhefte anbieten, wie sie wahrscheinlich nirgends sonst in Europa existieren. In jedem Wiener Bezirk (nur nicht im Ersten) hat damit der Kenner Gelegenheit, sich durch ganze Stapel von alten Illustrierten, Comic-Strips und zerlesenen Herrenmagazinen zu arbeiten. Tatsächlich - eine autochthone Form des Recycling und ein Horror für von der Waschmittelwerbung geprägte Hygienevorstellungen.

Schließlich gehören die kleinen Kinos zu dieser Welt der kurzen Distanzen. Zadrazil hat immer wieder Kinos gemalt, und hier ist der Verweis auf die Biographie des Malers notwendig. Franz Zadrazils Vater war Filmvorführer im Wiener Imperialkino, und das Kind begleitete den Vater oft auf dem Weg von der Arbeit durch die nächtliche Stadt. Darauf lassen sich die zahlreichen Nachtbilder bei Zadrazil zurückführen, wie überhaupt viele Kindheitseindrücke der Ausgangspunkt seiner Inspiration sind. Der Gegensatz der Begrenztheit seiner familiären zu der allgemeinen gesellschaftlichen Situation im Wien der Nachkriegszeit und der Exotik der verlockenden Bilder im Kino und auf den Fassaden wirkt sich bis heute in seiner Arbeit aus. Zadrazil erinnert sich, wie er aus der durch Kriegseinwirkungen halbzerstörten Wohnung seiner Eltern auf die wechselnden Affichen an einer gegenüberliegenden Wand schaute. Seine Eltern ermöglichten ihm dann unter schwierigen Verhältnissen den Besuch der Mittelschule. Dort hatte er das Glück, auf einen Kunsterzieher zu treffen, der ihm den Zugang zu Kriterien einer wirklich hochrangigen, zeitgenössischen Malerei eröffnete. Ernst Höffinger - er hat zusammen mit Gustav Hessing den "Kreis" begründet - hatte noch vor dem Krieg Kontakt mit Wiegele und konnte seinen Schülern und Freunden einen Begriff von wirklich relevanter Malerei geben.

Zadrazil absolvierte die Mittelschule und mußte dann unter dem Druck der Verhältnisse in den Postdienst eintreten. Er war jahrelang im Postamt des Franz-Josef-Bahnhofs tätig und lebte damit unter denselben "normalen" berufstätigen Leuten, welche die von ihm gemalten Häuser bewohnen (übrigens ein Bereich Wiens, den Heimito von Doderer in seinen Romanen als Stadtlandschaft und gesellschaftliches Panorama sehr genau beschrieben hat). Daneben arbeitete Zadrazil mit zunehmender Intensität an seiner künstlerischen Entwicklung. 1968 trat er in die Akademie ein und wurde von Rudolf Hausner in seine Meisterschule aufgenommen. Rudolf Hausner hatte kein Interesse daran, seinen Schülern seine eigenen künstlerischen Konzepte nahezulegen, aber er verstand es, in seiner Schule eine besonders stimulierende Atmosphäre zu schaffen. Zadrazil lernte an dieser Schule, doch blieb er weiter Postbeamter, oft im Nachtdienst, um bei Tageslicht malen zu können. Denn nur bei Tageslicht lassen sich Farbnuancen im Bild wirklich präzise bestimmen. Franz Zadrazil ist eben Kolorist, die Farbe kommt nicht zu den Bildern hinzu, sie entstehen vielmehr erst und nur durch die Farben. Jedes Bild ist durch eine klar definierte Farbgruppe, deren Elemente sich in großen ruhigen Flächen ausdehnen, bestimmt. Hier liegt auch einer der Gründe für Zadrazils Entscheidung zum großen Format: denn nur auf großen Formaten können sich seine Farben wirklich entfalten.

Kennzeichnend für seine Farbenwelt ist oft ein typisches warmes, quasi italienisches Rot, wie es sich zum Beispiel auf dem Bild "Walter Hut" über die ganze Fassade ausdehnt. Noch stärker leuchtet es in den Elektroreklamen im Parterre und wird in den abgewetzten Stellen des roten Anstrichs in hellerem Rosa variiert. Dazu kommt die Abwandlung zum Violett in den Ziegelreihen, die zum hellen Violett der Farbe der Hüte und Flächen im Parterre vermittelt; im Kontrast dazu steht das leuchtende Gelb der Schriften und Schilder im Parterre.

Anders wirkt das Rot im Bild "Milch und Molkereiprodukte" - hier ist es zwischen Orange und Caput Mortuum variiert und wird wunderbar vom weichen Blau der Schrift kontrastiert. Im Bild der "Arenabar" schließlich sieht man ein eigentümliches Grau-Rosa, verbunden mit einer ganzen Skala von verschiedenem Grau und Graublau in vielen Helligkeitsstufen. Damit ist das malerische Grau genannt. Diese vielen Grauspielarten sind ein bestimmendes Element in Zadrazils Koloristik und können mit dem Grau bei manchen italienischen Malern, man denke nur an Carra oder Gnoli, in Verbindung gebracht werden.

Grau sind die Fassaden der Gemeindebauten, grau ist das Haus mit dem Kino "Filmcasino" und wieder anders grau ist das Bild von der Pension Excelsior. Ein besonderes Exempel der Zadrazilschen Graumalerei ist auch das Bild mit der WÖK-Fassade, hier ist das Grau von Hellblaugrau über Weiß zum Beige und Ocker moduliert. Zu monumentaler Wirkung kommt das Grau im Bild mit dem Schäffer-Kino, wie die Haut eines lebendigen, riesigen, alten Tieres dehnt sich die fleckig beigegeputzte Fassade des Hauses, doch wird der Eindruck des Lebendigen durch die streng symmetrische Gliederung von Fassade und Bild überformt. Damit ist ein weiteres Element des Zadrazilschen Bildbaus genannt, die streng orthogonalen Gliederungen, in welche die Farbflächen gespannt sind. Diese Geometrie der rechten Winkel hat oft zu einer Interpretation seiner Arbeit als absolute Malerei geführt, aber sein Interesse an der Motivik, am Leben in den Farbflächen ist so stark, daß dadurch die abstrakt geometrische Wirkung seiner Arbeit immer ausbalanciert wird.
Denn in allen seinen Bildern zitiert Zadrazil gefundene Motive von oft großer Skurrilität, welche in spannungsreichem Gegensatz zur strengen Monumentalität seiner Komposition stehen.

Der Hinweis auf die Kinos, die Zadrazil gemalt hat, gibt aber auch Anlaß zu nicht nur biographischen Überlegungen, denn die meisten dieser kleinen Kinos in den Wiener Bezirken existieren heute nicht mehr. Peter Huemer hat in seinem Interview (**) mit Franz Zadrazil das Problem angesprochen, daß dem Maler seine Motive langsam verloren gehen. Waren die Bilder früher einfach in der Stadtlandschaft vorhanden, so müssen sie heute häufig aus einzelnen Elementen rekonstruiert werden. Zadrazil malt seine Welt, doch diese Welt geht ihm langsam verloren. Das, was an die Stelle dieser Welt tritt, interessiert ihn nicht, ja erfüllt ihn oft mit Abscheu (. . . man müßte sich schon heftig selbst verabscheuen, um einer solchen Zerstörung gegenüber gleichgültig zu bleiben, oder schlimmer noch, sich über die Vernichtung der Brennpunkte dieser Mittelklassen-Gefühle zu freuen . . . Saul Bellow in "Humboldts Vermächtnis"). Es ist eben Tatsache, daß die Entwicklung der Städte, der Stadt, eines der großen gesellschaftlichen Probleme der Zukunft sein wird. Und Zadrazils Bilder haben mit diesem Problem zu tun. Sie sind ein Plädoyer für eine Stadt, die von der Kreativität ihrer Bewohner geprägt war. Wenn er sich immer wieder auf die individuellen Gestaltungen und Einflüsse einfacher Leute auf alltägliche Geschäfts- und Hausfassaden bezieht, erweist er diesen Menschen seinen Respekt, er gesteht ihnen das gleiche Recht zu, welches er selbst in Anspruch nimmt, das Recht zur Kreativität.

Damit wendet er sich gegen eine Zerstörung der Stadt durch administrative oder kommerzielle Großplanungen, gegen die Zerstörung der Stadt durch den Moloch Autoverkehr (in Zadrazils Bildern kommt kein einziges Auto vor, er selbst hat niemals eines besessen), er verwendet niemals die, von modernen Werbeagenturen kreierten Werbezeichen, jene Symbole eines verrückt gewordenen Konsumismus, der unsere Welt zu zerstören droht, so wie sich seine Arbeit auch gegen die Zerstörung der Kultur durch Krieg und die den Krieg auslösende politische Barbarei wendet.

Elias Canetti hat in "Masse und Macht" auf den geheimen Zusammenhang von Glätte, Schärfe und Aggression, besonders in bezug auf die heutige Architektur, hingewiesen. Auch in diesem Licht sollten Zadrazils weiche, fast lebendige Oberflächen gesehen werden, mit den samtigwarmen Farben, die der Maler stellvertretend für uns sieht und anwendet. Aus diesen Farben entstehen seine Bilder und jedes ist ein Argument für individuelle Kreativität und eine authentische Kultur. Darüber hinaus ist aber Zadrazils Arbeit auch der Versuch, das Vergehen der Zeit aufzuhalten. Dieses Motiv kommt in der-Kunst manchmal zu ihrem innovativen Wesen hinzu, man denke nur an Proust's monumentales Werk. Zadrazil versucht ein komplettes Abbild jener Seelenlandschaft - Stadtlandschaft zu malen, welche die seine ist und die ihm in der Realität Stück um Stück verloren geht.
Ulrich Gansert
* Siehe auch Thomas Bernhard in "Die Billigesser"
** Katalog "Neue Galerie Wien", "Paris" 1988
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